Rezitieren aus einem Quran-Exemplar im rituellen Gebet
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Zu den frömmsten Taten und besten freiwilligen Handlungen gehört, dass man zwei gute Taten gleichzeitig zusammenbringt, nämlich das Gebet und das Rezitieren des Quran. So soll man auf das Rezitieren des ganzen ehrwürdigen Quran im rituellen Gebet bedacht sein. Weil es nun aber nicht jedem möglich ist, dies aus dem Gedächtnis zu tun, sprechen sich die Gelehrten für die Möglichkeit aus, im rituellen Gebet beim Rezitieren ein Quran-Exemplar zu Hilfe zu nehmen, und zwar in der Weise, dass man dieses in der Hand hält oder es auf einen Quran-Stuhl gelegt wird, so dass der Betende rezitieren kann.
Laut der Rechtsschule der Schafi´iten und der darauf fußenden Rechtsentscheidung der Rechtsschule der Hanbaliten ist sowohl einem Vorbeter als auch einem allein Betenden das Rezitieren im rituellen Gebet aus einem Quran-Exemplar gestattet, wobei es keinen Unterschied zwischen einem Pflichtgebet und einem zusätzlich freiwilligen Gebet oder dem Auswendiglernenden und Anderem gibt. Dies ist das Anerkannte und wurde von Ibn Qudaama in dessen Werk Al-Mughni, Bd. 1, S. 336, nach einer Überlieferung von den beiden früheren Rechtsgelehrten ´Ataa` und Jahja Al-Ansaari zitiert.
In Al-Bucharis Sammlung authentischer Hadithe steht in Form eines fraglichen Hadithes, bei dessen Überliefererkette Al-Buchari sich auf einen bestimmten Propheten-Gefährten festgelegt hat, dass A`ischa, Mutter der Gläubigen (möge Allah an ihr Wohlgefallen finden!), hinter ihrem Sklaven Dhakwaan zu beten pflegte, während dieser aus einem Quran-Exemplar rezitierte. Diesen Hadith führten Ibn Abu Schaiba in seinem Werk Al-Musannaf (Bd. 2, S. 235) und Al-Baihaqi in seinem Werk As-Sunanu-l-Kubra (Bd.2, S. 253) direkt auf den Propheten zurück.
Imam Az-Zuhri wurde über einen Mann befragt, der im Monat Ramadan aus einem Quran-Exemplar rezitierte. Da antwortete er: "Die Besten unter uns pflegen aus Quran-Exemplaren zu rezitieren." Dies ist im Al-Mudauwana Al-Kubra (Bd. 1, S. 288f.) und Al-Mughni von Ibn Qudama (Bd. 1, S. 335) erwähnt.
Wie das Quran-Rezitieren eine Anbetungshandlung darstellt, ist ebenso das Blicken des Quran-Exemplars eine Anbetungshandlung, wobei es für das Verflechten zweier Anbetungshandlungen keinen Hinderungsgrund darstellt, vielmehr wird einem dafür die Erhöhung der Belohnung zugesprochen, da ja das Blicken auf das Quran-Exemplar eine Erhöhung der Werke bildet.
Hudschatu-l-Islam Al-Ghazali sagte in seinem Werk Ihjaa´u Ulumi-d-Dien (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften) (Bd. 1, S. 229): "Es wurde gesagt, dass das Rezitieren des ganzen Quran aus einem Quran-Exemplar etwas Siebenfaches ist, denn das Blicken in ein Quran-Exemplar stellt ja ebenso eine Anbetungshandlung dar. "
Eine schariatische Rechtsregel lautet, dass die Rechtsnorm der Absichten auch für die Mittel gilt, wobei hier das Quran-Rezitieren beabsichtigt ist. Wird dieses Absicht durch das Blicken in etwas Geschriebenes wie ein Quran-Exemplar verwirklicht, ist dies zulässig.
Imam An-Nawawi sagt in seinem Werk Al-Madschmu´(Bd. 4, S. 27): "Rezitiert jemand den Quran aus einem Quran-Exemplar, ist sein Gebet nicht rechtsungültig, wobei es unerheblich ist, ob man den Quran auswendig kennt oder nicht. Man muss dies sogar tun, falls man die erste Sure (Al-Faatiha) nicht auswendig kennt. Blättert er manchmal die Seiten des Quran-Exemplars im Gebet um, macht auch dies sein Gebet nicht rechtsungültig."
Der hanbalitische Hochgelehrte Mansur Al-Buhuti sagte in seinem Werk Kaschaafu-l-Qinaa´ (Bd. 1, S. 384): "Einem Betenden ist erlaubt, aus einem Quran-Exemplar zu rezitieren, auch wenn er den Quran auswendig kennt, wobei es unerheblich ist, ob es sich dabei um ein Pflichtgebet handelt oder um ein zusätzlich freiwilliges Gebet. Dies ist die Meinung von Ibn Haamid."
Dahingegen meinen die Hanafiten, dass das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar im Gebet dieses rechtsungültig macht. Dies ist auch die Lehrmeinung des zahiritischen Imam Ibn Hazm. Er führte dafür unter Anderem folgende Beweise:
Ibn Abu Dawud veröffentlichte in seinem Werk Kitaabu-l-Masaahif (S. 655), dass Ibn ´Abbas (möge Allah an beiden Wohlgefallen finden!) sagte: "Der Fürst der Gläubigen Umar (möge Allah an ihm Wohlgefallen finden!) untersagte uns, dass man den Leuten vorbetet, während man aus einem Quran-Exemplar rezitiert, und dass jemand vorbetet, der noch nicht geschlechtsreif ist."
Diese Überlieferung gilt als nicht gesichert, denn in ihrer Überlieferungskette steht Nahschal ibn Sa´ied An-Naisaaburi, der als Lügner angesehen wird, von dem nichts angenommen wird. Al-Buchari sagte über ihn in seinem Werk At-Tariechu-l-Kabier (Bd. 8, S. 115): "In seinen Überlieferungen befinden sich zu verwerfende Hadithe." An-Nasaa`i sagte ferner in seinem Werk Tahdhiebu-t-Tahdhieb (Bd. 10, S. 427): "Er ist nicht zuverlässig und die von ihm überlieferten Hadithe werden nicht niedergeschrieben."
Es wird ferner eingewandt, dass das Halten und das Blicken in das Quran-Exemplar sowie das Umblättern der Seiten als viele Aktionen betrachtet werden.
Als Erwiderung auf das Verbieten des Haltens des Quran-Exemplars und des Umblätterns dessen Seiten als zu viele Aktionen, die das Gebet rechtsungültig machen, gilt Folgendes:
Was das Halten betrifft, so betete Allahs Gesandter (Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen!), während er Umaama bint Abu-l-Aas auf seinen Schulter trug, wobei er sie auf den Boden zu setzen pflegte, wenn er sich niederwarf, und sie wieder zu tragen pflegte, wenn er aufstand.
Was das Umblättern der Seiten des Quran-Exemplars betrifft, so gibt es viele Hadithe dafür, dass das Durchführen geringer Aktionen im Gebet zulässig ist, wobei das Umblättern zu diesen geringfügigen, entschuldbaren Aktionen gehört.
Und das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar muss nicht das Ausmaß vieler Aktionen erreichen, denn das Umblättern der Seiten des Quran-Exemplars geschieht nur in sehr begrenztem Umfang, zumal es viel Zeit zwischen dem Wenden einer Seite und der folgenden gibt und das Umblättern per se eine einfache Aktion darstellt. Man kann sich dabei möglicherweise eines in großer Schrift geschriebenen, sich in erhöhter Position vor dem Betenden befindlichen Quran-Exemplars bedienen, damit dieser daraus eine oder zwei Seiten rezitiert. Das erfordert kein umfangreiches Umblättern.
Die beiden hanafitischen Gefährten Richter Abu Jusuf und Muhammad Ibn Al-Hasan Asch-Schaibaani sind der Meinung, dass das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar im Gebet absolut verwerflich ist, wobei es unerheblich ist, ob sich dabei um ein Pflichtgebet oder um ein zusätzlich freiwilliges Gebet handelt, wobei dies das Gebet jedoch nicht rechtsungültig macht, denn es handelt sich hier um eine Anbetungshandlung, die zu einer anderen Anbetungshandlung hinzugefügt wird. Der Aspekt des Unerwünschtseins liegt darin, dass dies als Nachahmung der Leute der Schrift betrachtet wird.
Es ist festzustellen, dass das Nachahmen von Handlungen der Leute der Schrift nicht erlaubt ist, wenn der Durchführende die Nachahmung beabsichtigt. Das arabische Wort تشـبه (=Nachahmung) leitet sich vom arabischen fünften Verbstamm ab, der normalerweise das Fassen eines Vorsatzes bezeichnet sowie die Hinwendung dazu, das Werk in Angriff zu nehmen. Zu den schariatischen Grundlagen gehört, dass die Absicht eines zur Einhaltung religiöser Vorschriften Verpflichteten berücksichtigt wird. Als Beweis dafür gilt der von Imam Muslim nach einer Aussage von Dschaabir Ibn Abdullah (möge Allah an beiden Wohlgefallen finden!) überlieferte Hadith, in dem es heißt: "Allahs Gesandter (Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen!) klagte über Schmerzen. Wir beteten also hinter ihm, während er saß. Er drehte sich nach uns um und sah, dass wir standen. Er gab uns einen Wink und wir setzten uns. Als er das Gebet beendet hatte, sagte: "Ihr wart nahe daran, euch wie Perser und Römer zu verhalten: Sie stehen vor ihren Königen, während diese sitzen. Tut das aber nicht! Betet hinter eurem Vorbeter, und wenn er stehend betet, dann betet stehend, und wenn er sitzend betet, dann betet sitzend!"
Das arabische Verb كاد (= nahe daran sein) bezeichnet bei Affirmation das Nicht-Vorhandensein seiner Ergänzung unter dem Aspekt, dass man im Begriff dessen Eintretens steht. Da nun die Gefährten die Nachahmung nicht beabsichtigt hatten, war demzufolge diese Eigenschaft bei ihnen von der Scharia her nicht vorhanden. Und einem Betenden, der aus einem Quran-Exemplar rezitiert, kommt es nicht in den Sinn die Leute der Schrift nachzuahmen, ganz abgesehen davon, dass er es ja auch gar nicht beabsichtigt.
Daher sagte der hanafitische Hochgelehrte Ibn Nudschaim in seinem Werk Al-Bahru-r-Raa´iq (Bd. 2, S. 11): "Wisse, dass die Nachahmung der Leute der Schrift nicht bei allen Dingen verwerflich ist! Wir essen und trinken, wie sie es tun. Das Harame ist nichts weiter als das Nachahmen dessen, was tadelnswert ist und bei dem das Nachahmen ausdrücklich beabsichtigt wird. Falls demzufolge das Nachahmen nicht beabsichtigt wird, ist es bei den beiden Gefährten Abu Hanifas nicht verwerflich." Zitatende.
Die Malikiten unterscheiden dabei zwischen einem Pflichtgebet und einem zusätzlich freiwilligen Gebet. So sind sie der Meinung, dass das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar seitens eines Betenden in einem Pflichtgebet absolut verwerflich ist, wobei es unerheblich ist, ob das Rezitieren am Anfang oder während des Gebets stattfindet. Desgleichen ist dies in einem zusätzlich freiwilligen Gebet verwerflich, falls ein Betender während des Gebets das Rezitieren beginnt, weil er dann damit überwiegend beschäftigt ist. In einem zusätzlich freiwilligen Gebet ist es jedoch zulässig, wenn ein Betender aus einem Quran-Exemplar am Anfang ohne Widerwillen rezitiert, denn in einem zusätzlich freiwilligen Gebet wird vergeben, was in Pflichtgebeten nicht vergeben wird (Manhu-l-Dschalieli Scharhi Muchtasari Chaliel, Bd. 1, S. 345).
Man kann darauf erwidern, dass dieses Unerwünschtsein lediglich dann eintritt, wenn die Beschäftigung das Ausmaß einer der Spielerei und nutzlosen Handlung ähnlichen Beeinträchtigung erreicht. In einem derartigen Fall ist es für einen Betenden unerwünscht, dass er sich damit beschäftigt, zumal dies der demütigen Ehrfurcht zuwiderläuft. Was aber das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar im Gebet betrifft, so gehört es nicht dazu; vielmehr handelt es sich dabei um einen leichten Akt, den ein Betender ob einer beabsichtigten Angelegenheit durchführt. Bei allem, was zu diesem Thema gehört, spricht nichts dagegen, dass man es tut. Die Grundlage dafür ist der von Imam Ahmad in dessen Musnad (Bd. 3, S. 92) und von Abu Dawud in dessen Hadith-Sammlung (Hadith-Nr. 650) nach einer Aussage von Abu Sa´ied Al-Chudari (möge Allah an ihm Wohlgefallen finden!) überlieferte Hadith, in dem es heißt, dass der Prophet (Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen!) seine Schuhe im Gebet auszog, als ihm geoffenbart wurde, dass es an den ihnen etwas Schmutziges gibt.
Auf der Basis des oben Erwähnten gründet sich, was wir festlegen, dass nämlich das Rezitieren aus einem Quran-Exemplar sowohl im Pflichtgebet als auch im zusätzlich freiwilligen Gebet rechtens und von der Scharia her zulässig ist. Es gibt darin weder etwas Unerwünschtes noch Rechtsungültigkeit des Gebetes.
Es ist indes darauf hinzuweisen, dass es sich um eine umfangreiche Angelegenheit handelt, solange die Frage noch umstritten ist, und zwar weil festgelegt ist, dass es keine Missbilligung bei umstrittenen Fragen geben soll, und es nicht gestattet ist, dass diese Unruhe und Konflikte unter den Muslimen hervorrufen.
Und Allah der Hocherhabene weiß es am besten!